Carl Wilhelm Heine - Enkel des
Lauterbacher Sonnenwirts -
einer der großen Chirurgen des 19. Jahrhunderts
D'Kräz 12 (1992)
als PDf-Datei hier
In drei Beiträgen und einem kleinen
Nachtrag in früheren Heften der "Kräz" wurden bislang
drei bedeutende Nachkommen des Lauterbacher Bierbrauers Joseph
Heine (1732-1820) gewürdigt.
Sowohl Josephs Sohn Johann Georg Heine ("D'Kräz"
Nr. 8) wie sein Enkel Jakob
("D'Kräz" Nr. 10) sind gebürtige Lauterbacher,
während ein weiterer Enkel, Bernhard Heine ("D'Kräz"
Nr. 9), in Schramberg geboren ist.
Im vorliegenden Beitrag wird ein Spross der Lauterbacher Familie
vorgestellt, der nicht in der Raumschaft geboren ist. Carl
Wilhelm Heine ist der Sohn des seinerzeit in Cannstatt wirkenden
Jakob Heine, der als Entdecker und Beschreiber der
"Heine-Medinschen Krankheit" (Spinale Kinderlähmung) zu
Weltruhm gelangt ist
("D'Kräz" Nr. 11).
Es erscheint dennoch sinnvoll, den Cannstatter Carl Wilhelm
Heine in der Heimatgeschichte der Raumschaft Schramberg zu
berücksichtigen, um das Gesamtbild dieser für die
Entwicklung der Medizin so wichtigen Familie abzurunden. Dieser
Enkel des Lauterbacher Sonnenwirts Martin Heine ist nämlich
in den siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts zu einem der
bedeutendsten Chirurgen Mitteleuropas aufgestiegen und hat bei
seinem frühen Tod im Alter von 39 Jahren weit über
seinen damaligen Wirkungskreis hinaus Anerkennung
gefunden.
Abb. 1: Stammtafel der Familie Heine
In den Fußstapfen des Vaters Beginn der Laufbahn als
Mediziner (1838 - 1863)
Carl Wilhelm Heine ist am 26. April 1838 in
Cannstatt als erstes Kind des Orthopäden und Arztes Jakob
Heine und dessen Ehefrau Henriette Ludovike geb. Camerer geboren.
(Abb. 1)
Seit 1829 betreibt der Vater Jakob Heine in Cannstatt eine
orthopädische Anstalt, die weithin bekannt ist. Carl Wilhelm
wächst also in "sicheren Verhältnissen" auf. Er besucht
die Lateinschule in Cannstatt und später das Gymnasium in
Stuttgart, wo er 1855, also mit siebzehn Jahren, die
Hochschulreife erwirbt. Im Wintersemester 1855, noch nicht
achtzehnjährig, schreibt er sich an der Universität
Tübingen als Medizinstudent ein. Er studiert bei einem
bedeutenden Chirurgen der Zeit, Viktor von Bruns, der die
operative Technik sowie die Kenntnisse von den
Kehlkopfkrankheiten vorangetrieben hat. Hier erhält der
junge Heine das Rüstzeug und auch die entscheidenden Impulse
für seine spätere Spezialisierung als Chirurg. Aber er
bleibt nicht in Tübingen, sondern studiert mehrere Semester
die Quellen sind sich über die genaue Dauer des Aufenthalts
nicht einig in Würzburg, gleichfalls eine Hochburg der
Chirurgie. 1861 kehrt er nach Tübingen zurück und
promoviert im Juni an der medizinischen Fakultät mit einer
Dissertation (Abb.2) über eine Herzanomalie ("Angeborene
Atresie des Ostium dextrum").
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Abb. 2: Carl Wilhelm
Heines Dissertation (1861) |
Damit hat der dreiundzwanzigjährige Carl Wilhelm Heine noch
keine Zulassung als Arzt. Das Königreich Württemberg
verlangt nämlich von seinen Ärzten auch ein
Staatsexamen vor dem Medizinalkollegium in Stuttgart. Diesem
Examen unterzieht sich der junge Mediziner 1862. Seine
finanzielle Unabhängigkeit erlaubt ihm zuvor eine
einjährige Bildungsreise zu bedeutenden Universitäten
im "Ausland": sechs Monate ist er in Wien, über drei Monate
in Berlin und auch einige Wochen in Prag. Im Sommer 1862, nach
Ablegung des Staatsexamens, assistiert der jetzt zugelassene Arzt
für einige Wochen seinem Vater in der Orthopädischen
Anstalt, ehe er dann im Oktober eine zweite Reise antritt, die
ihn diesmal über den deutschsprachigen Raum
hinausführt. Bis April 1863 ist er in Paris, dann besucht er
London, Glasgow, Edinburg und Dublin. Sein besonderes Interesse
gilt hier den britischen Kliniken. Er berichtet während
dieser Zeit im "Correspondenzblatt des Württembergischen
Ärztlichen Vereins" wiederholt über seine Erfahrungen.
Er schreibt aber auch in der englischen "Medical Times and
Gazette" über "Infantile paralysis", also
Kinderlähmung, das Spezialgebiet des Vaters Jakob Heine. Von
den Zeitgenossen wird das große Sprachtalent des jungen
Mediziners hervorgehoben. Er beherrscht neben dem für
Ärzte damals unerlässlichen Latein auch das
Französische und Englische fließend, und in seinen
Veröffentlichungen zitiert er immer wieder englische und
französische Autoren.
Volontärarzt im schleswig-holsteinischen Krieg von 1864
Hinwendung zur Chirurgie
Im Herbst 1863 kommt Heine von den britischen
Inseln zurück und arbeitet einige Monate in der
orthopädischen Anstalt seines Vaters in Cannstatt. In der
letzten Januarwoche des Jahres 1864 bricht in Schleswig-Holstein
ein Krieg aus, der erste "große" Krieg nördlich der
Alpen seit den Befreiungskriegen. Eine
preußisch-österreichische Allianz rückt in
Schleswig-Holstein ein, um den dänischen König an einer
Einverleibung des Teilherzogtums Schleswig in sein dänisches
Königreich zu hindern.
Der sechsundzwanzigjährige Carl Wilhelm Heine meldet sich
freiwillig als Feldarzt, obwohl sein Heimatland Württemberg
an diesem Feldzug nicht beteiligt ist. Er wird vom
württembergischen Außenministerium und vom
Kriegsministerium sowie von den Gesandten Preußens und
Österreichs in Stuttgart empfohlen.
"Meine
freiwillig angebotenen Dienste [wurden] von Seiten des
Oberkommando's der verbündeten Armeen dankbar angenommen,
und fanden dieselben sehr bald in den beiden, bis dahin unter
gefangenen dänischen Militärärzten stehenden
Lazarethen im Bürgervereine und in der Harmonie in Flensburg
die gewünschte Verwendung, indem zunächst die daselbst
untergebrachten österreichischen und preussischen
Verwundeten und Kranken mir zur Behandlung übergeben
wurden."
So berichtet Heine am 8. März 1864 aus
Flensburg in einem Artikel für das "Medicinische
Correspondenzblatt des Württembergischen Ärztlichen
Vereins", für das er auch schon über seine Erfahrungen
in britischen Kliniken berichtet hatte. Ausführlich
schildert er in dem mehrseitigen Bericht die Ausstattung der
Feldhospitäler in Flensburg. Wir erfahren auch etwas
über die pflegerische Betreuung, die freiwillige
Organisationen leisten, wie die Brüder des Rauhen Hauses,
"von Consistoriaralrath Wichern selbst hier eingeführt", die
Alexianer aus Aachen und die Diakonissinnen aus Bethanien.
Der junge Carl Wilhelm Heine hat in Flensburg Kontakt mit dem
bedeutenden Chirurgen Bernhard von Langenbeck, dem Direktor der
chirurgischen Universitätsklinik in Berlin, der zu den
bedeutendsten Kriegschirurgen des 19. Jahrhunderts zählt.
Vielleicht wird bei dieser Begegnung bereits die spätere
Zusammenarbeit Heines mit Langenbeck in Berlin verabredet.
Jedenfalls zeigt der junge Cannstatter in Flensburg bereits sein
großes chirurgisches Talent. Er setzt sich kritisch mit
dem, was er "eine entschieden konservative Tendenz in der
chirurgischen Behandlung" der Kriegsverwundungen nennt,
auseinander, und er stellt fest, dass durch Verschleppung eines
"rechtzeitigen, d.h. primären operativen Eingriffs" viele
Verwundete an Infektionen sterben. Seine Erfahrungen lassen ihn
zu dem Schluss kommen, dass eine Amputation oder Resektion
(Teilentfernung eines Organs) "unmittelbar nach der Verwundung
auf dem Verbandplatze oder doch im Aufnahmespitale" in vielen
Fällen das Leben der Verwundeten retten kann.
Ausführlich schildert er dann im Korrespondenzbericht aus
Flensburg seine Behandlungsmethoden bei Verletzungen
verschiedenster Art.
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Abb. 3: Carl Wilhelm
Heine |
Seine umfangreichen Erfahrungen auf dem Gebiet der Amputation
veröffentlicht er später in einem Aufsatz über die
"Schußverletzungen der unteren Extremitäten nach
eigenen Erfahrungen aus dem letzten schleswig-holsteinschen
Kriege" (1866). Eine eigens von ihm eingeführte Methode der
Oberschenkelamputation bereichert nach Aussagen der Zeitgenossen
die chirurgische Technik. In dem teilweise sehr persönlich
gehaltenen Bericht aus Flensburg gewinnt der Leser auch einen
Eindruck von der politischen Einstellung des jungen Schwaben. So
schließt er seinen Bericht, der noch vor der
kriegsentscheidenden Erstürmung der Düppeler Schanzen
verfasst wird, mit folgenden Zeilen:
"So sehen wir
guten Muthes dem allem Anscheine nach nun rasch vor unseren Augen
sich entrollenden 2ten Akte des Kriegsdrama's entgegen, und
vielleicht ehe diese Zeilen in die Hände Ihrer Leser
gelangen, haben Sie von neuen wichtigen Begebnissen gehört,
die, so Gott will, den Sieg der gerechten Sache endlich über
alle Zweifel erheben werden."
Hier wird deutlich, dass es nicht nur
"chirurgische Neugier" war, die Carl Wilhelm Heine bewog, sich
freiwillig für die Aufgabe in Schleswig-Holstein zu melden.
Wir werden auch noch später Belege für seine "deutsche"
Gesinnung finden.
Seine Leistung als Feldarzt bringt ihm hohe Auszeichnungen der
beiden Siegermächte Österreich und Preußen. So
erhält er den österreichischen Orden der eisernen Krone
dritter Klasse, Voraussetzung für seine spätere
Erhebung in den erblichen Ritterstand der Donaumonarchie. Das
Königreich Preußen würdigt seine Verdienste
gleich mit zwei Auszeichnungen, dem Alsenkreuz am
Hohenzollernband (mit der Erstürmung der Insel Alsen wurde
der deutsch-dänische Krieg beendet) und wohl bedeutender dem
Roten Adlerorden der vierten (und damit der untersten)
Klasse.
Universitätslehrer in Heidelberg und Innsbruck
(1865-1873)
Die Erfahrungen im Krieg waren wohl
ausschlaggebend für Carl Wilhelm Heines endgültige
Entscheidung, die akademische Laufbahn als Chirurg einzuschlagen.
So ist es kein Zufall, dass im Jahr 1864 Jakob Heine seine
Orthopädische Anstalt schließt, nachdem er immer
gehofft hatte, der Sohn werde in seine Fußstapfen treten.
Dieser fühlt sich offenbar zu Höherem berufen, er
braucht die Universität als Arbeitsfeld. Er geht im Winter
1864/65 nach Berlin und sammelt reichliche Erfahrung bei den
großen Medizinern der Universitätsklinik, vor allem
bei Rudolf Virchow und dem bereits erwähnten Bernhard von
Langenbeck. Im Juli 1865 übersiedelt er nach Heidelberg und
wird Assistenzarzt beim Leiter der dortigen chirurgischen Klinik,
Otto Weber. Bei zahlreichen Operationen Webers und anderer
Professoren assistiert er und sammelt weitere Erfahrungen. Im
Oktober habilitiert sich Heine als Privatdozent und
übernimmt einige Vorlesungen in Chirurgie. Eine rasche
akademische Karriere nimmt ihren Anfang. Als Otto Weber
überraschend an Diphtherie stirbt, wird Heine im Mai 1868
zum außerordentlichen Professor ernannt und mit der
kommissarischen Leitung der Klinik beauftragt, auch in damaliger
Zeit für einen Dreißigjährigen eine Ausnahme. In
die Heidelberger Zeit fällt der zweite "Bismarck-Krieg", in
dem Preußen gegen Österreich und die süddeutschen
Staaten kämpft. Carl Heine bleibt ihm fern, weil ihn wohl
die zahlreichen Aufgaben an der Universität zu sehr
beschäftigen, vielleicht aber auch, weil er als
Württemberger mit preußischen und
österreichischen Auszeichnungen am Revers nicht weiß,
auf welcher Seite er stehen soll.
Auch in die Heidelberger Zeit fallen einige wichtige
Veröffentlichungen Heines, so u. a. eine über die von
ihm "erfundene" Oberschenkelamputation und vor allem das
Standardwerk von rund 400 Seiten über die
"Schußverletzungen der unteren Extremitäten" (1866).
Damit nimmt der Achtundzwanzigjährige einen festen Platz
unter den "schriftstellerisch" tätigen Chirurgen des 19.
Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum ein. In Österreich
wird man auf den begabten Chirurgen aufmerksam und bietet ihm die
Leitung der chirurgischen Klinik in Innsbruck an. Zweihundert
Jahre nach Gründung der Innsbrucker Universität wird
1869 die seit Jahren geschlossene medizinische Fakultät
wieder eröffnet.
"Es war eine
eigenthümliche Erscheinung, dass die tüchtigeren
jüngeren Chirurgen, an denen es in Wien nicht fehlte, es
ablehnten, die Stellung eines chirurgischen Klinikers in
Innsbruck anzunehmen. Dort eventuell zu bleiben, war ihnen ein
schrecklicher Gedanke.... Heine ging mit frischem Muth an das
nicht ganz leichte Werk, in Innsbruck mit kleinem Material, mit
knappen Mitteln eine Klinik zu schaffen."
So schildert Heines späterer Freund
Theodor Billroth, seit 1867 Professor in Wien, Heines
nächsten Schritt in seiner akademischen Laufbahn. Die
endgültige Trennung zwischen Preußen/ Deutschland und
Österreich-Ungarn, welche der Krieg von 1866 mit sich
bringt, scheint für die Akademiker im deutschsprachigen Raum
ohne Bedeutung. Heine übernimmt die reizvolle Aufgabe, eine
moderne chirurgische Klinik aus dem Nichts zu schaffen und zeigt
hierbei großes Geschick, nicht nur als medizinischer
Fachmann, sondern auch als Organisator und Verhandlungspartner in
den Auseinandersetzungen mit der für die Mittel
zuständigen Obrigkeit. Hierbei kommt ihm zustatten, dass er
"materiell frei war: keine Nebenrücksicht auf Praxis und
andere sociale Verhältnisse banden ihn; er lebte nur seinem
Beruf als Universitätslehrer und seinen wissenschaftlichen
Arbeiten", womit Billroth wohl auf die "gesicherten
Verhältnisse" des Cannstatter Elternhauses anspielt.
Carl Wilhelm Heine, nunmehr ordentlicher Professor, erreicht in
wenigen Monaten, dass die chirurgische Klinik in der
österreichischen Provinz "nicht nur formell, sondern auch
geistig anerkannt sofort mitten im deutschen
Universitätsverbande" steht. Ein weiteres Standardwerk der
medizinischen Literatur, "Der Hospitalbrand", entsteht in dieser
Zeit; es wird 1874 im "Handbuch der allgemeinen und speciellen
Chirurgie", dessen Mitherausgeber Heines Freund Billroth ist, in
Berlin veröffentlicht. In diesem Buch, das eine Fülle
von Material aus der klinischen Praxis in Heidelberg und
Innsbruck verarbeitet, versucht Heine nachzuweisen, dass der
Hospitalbrand - der medizinische Fachausdruck ist heute
Gangrän, es handelt sich um einen durch Infektion
hervorgerufenen Untergang von Gewebe - mit der Wunddiphtherie
identisch ist, und er findet hierbei Unterstützung beim
großen Rudolf Virchow, wogegen andere führende
Chirurgen gegenteilige Auffassungen vertreten. Jedenfalls hat
sich Carl Wilhelm Heine längst in die Reihe der jungen
wissenschaftlichen Mediziner eingereiht, deren Arbeiten in der
Fachwelt Beachtung finden.
Heines Interesse an der Kriegschirurgie ist auch während
der Innsbrucker Zeit nicht erlahmt. Vielleicht gepaart mit dem
Interesse an der "gerechten", d. h. deutschen Sache, bringt es
ihn dazu, sich erneut freiwillig zum Dienst als Militärarzt
zu melden. Als im Sommer 1870 der deutsch-französische Krieg
beginnt, nutzt der junge deutsche Professor in Innsbruck die
Semesterferien, um einen württembergischen Sanitätszug
kurz hinter der Front in Nancy zu leiten. In der kaiserlichen
Tabakfabrik der französischen Stadt richtet er ein
Feldhospital ein, das nach Aussagen der Zeitgenossen "einer
Klinik ersten Ranges" entspricht. Erneut stellt Heine sein
chirurgisches Talent unter Beweis. Als ihn im Herbst das Ende der
Ferien zur Rückkehr nach Innsbruck zwingt, begleitet er
einen Verwundetentransport in die württembergische Heimat.
Der von ihm zweckmäßig eingerichtete Sonderzug dient
mit seinen "Heineschen Wagen" auch für spätere
Verwundetentransporte als Muster. Nach dem Krieg erhält er
hohe Auszeichnungen, so vom preußischen König -
inzwischen zum Deutschen Kaiser ausgerufen das eiserne Kreuz
zweiter Klasse sowie eine "Kriegsdenkmünze für
Nichtcombattanten" Der bayerische König verleiht ihm das
bayerische Verdienstkreuz.
Klinikchef und Präsident der Ärzteschaft in Prag
(1873 - 1877)
Carl Wilhelm Heine bleibt bis 1873 in
Innsbruck. Seine hervorragende Leistung bei der Gründung und
dem Ausbau der chirurgischen Klinik veranlasst die
österreichische Regierung, ihn mit einem ähnlichen
Projekt in Prag zu beauftragen. In der Goldenen Stadt soll eine
zweite chirurgische Klinik eröffnet werden. Heine, der Prag
von seiner Reise als frischgebackener Doktor der Medizin kennt,
nimmt die reizvolle Aufgabe an. Mehr Mittel und "grösseres
Material" als in Innsbruck ermöglichen es ihm, aus seiner
Klinik eine mustergültige Anstalt von europäischem Rang
zu machen. Theodor Billroth vergleicht mit seiner eigenen Klinik:
"Alles war vortrefflich eingerichtet und geordnet, weit
geräumiger und bequemer für alle Lehr und Lernzwecke
als in Wien." Heine führt die antiseptische Wundbehandlung
in Prag ein und kümmert sich um die Prager Wasserversorgung,
um für bessere hygienische Verhältnisse in der Stadt zu
sorgen. Die Sterblichkeitsquote in der Klinik sinkt von 12,5 auf
4,5 %. In der operativen Technik leistet er gleichfalls
Pionierarbeit. Längst hat Heine aufgehört,
ausschließ- lich Operationen an den "Extremitäten"
durchzuführen. Er macht die erste erfolgreiche Ovariotomie
(Entfernung der Eierstöcke) in Prag, er demonstriert
Kehlkopfoperationen und behandelt komplizierte
Kieferschäden. Ebenso befasst er sich mit Bruchoperationen,
aber auch mit der Verbesserung der Sprechfähigkeit bei
Patienten mit Defekten im Gaumenbereich. Zahlreiche
Veröffentlichungen in deutschen und österreichischen
Fachzeitschriften fallen in diese Zeit.
Neben der Arbeit als Arzt und Universitätslehrer bleibt ihm
auch noch Zeit für ein gewisses politisches Engagement.
Schließlich ist die Stellung der deutschen bzw.
deutschsprachigen Ärzte in der böhmischen Stadt nicht
unumstritten. Es gibt eine tschechische "Partei" in der Prager
Ärzteschaft, die versucht, den deutschen Einfluss
zurückzudrängen. Heines Haltung hierzu wird vom
zeitgenössischen Biographen Billroth eindeutig
charakterisiert:
"Heine's
Begeisterung für den Gedanken, dass Deutsch- Österreich
in geistigem Verbande erhalten werden müsse mit dem
Deutschen Reich, und dass dazu die immer festere Verknüpfung
der wissenschaftlichen Verbindungen erstrebt werden müsse,
äusserten sich besonders auch darin, dass er mit
grösster Anstrengung und intensiver geistiger Arbeit die
Ärzte Böhmens in stetem Contact mit den ungeheuren
Fortschritten der deutschen Chirurgie zu halten bemüht
war."
Billroth charakterisiert die Arbeit Heines in
dieser Richtung als geradezu "agitatorisch", was ihn nach anderen
Aussagen sagen zu einem "von den Tschechen bestgehaßtesten
Männern" macht. Im Oktober 1876 wird Heine
österreichischer Staatsbürger und damit als Träger
des Ordens der eisernen Krone in den erblichen Ritterstand des
Kaiserreiches erhoben. Im Januar 1877 wird er einstimmig zum
Präsidenten des Vereins der deutschen Ärzte in Prag
gewählt, in dem er schon seit Beginn seiner Prager
Tätigkeit aktiv ist.
Über den Menschen Carl Wilhelm Heine
Wie viel ist aus den zeitgenössischen
Quellen über den Menschen Carl Wilhelm Heine zu erfahren? In
einem sind sich alle einig, und dies belegt auch die Biographie
dieses Mannes eindeutig: Er war "völlig eins mit seinem
Berufe." Er findet kaum Zeit für das Private, er bleibt
Junggeselle, von einer persönlichen Bindung außerhalb
der Familie ist nichts zu erfahren. Hier aber bescheinigt man ihm
"zarteste Bande der Liebe und Anhänglichkeit", die ihn auch
im gereiften Alter noch mit Eltern und Geschwistern verbinden.
Oft bringt er einen Teil seiner Ferien im väterlichen Haus
zu. In Gesellschaft wird ihm Beherrschung der "Form" und
Ungezwungenheit zugleich nachgesagt, er kann mit "sprudelndem
Humor" ebenso wie mit "ernster Erwägung" den Kreis "beleben
und gewinnende Herzlichkeit entfalten." Diese ungezwungene Art
verschafft ihm die Anerkennung auch voreingenommener und
verbissener Gegner. Mit den Fachkollegen pflegt er einen offenen
und geraden Umgang, "trotz seines Selbstgefühls wurde er
nicht herb, und seine Ueberlegenheit hatte nur der Unbescheidene
bemerkbar zu empfinden." Das Deutsche Volksblatt, in dem diese
Charakterisierung 1877 erscheint, weiß auch, dass Heine
trotz aller Gefahren, die eine umfassende Beschäftigung mit
der medizinischen Wissenschaft für "das christliche
Gemüt" mit sich bringt, "das innere Auge offen erhielt, das
Höhere nicht verlor und den Glauben bewahrte."
Heines Sprachtalent ist bereits erwähnt worden. Als
Universitätslehrer wird ihm eine "Meisterschaft der Rede"
nachgesagt, welche Studenten wie Kollegen in seinen Vorlesungen
und Vorträgen begeistert. Die höchste Bewunderung wird
ihm aber für sein Geschick als Operateur zuteil:
"Heine war kein
verwegener, er war vielmehr ein besonnener Operateur,"
heißt es im Nekrolog seines Prager
Kollegen Gottfried Ritter, "dessen
Scharfblick und Gewandtheit einerseits, dessen fast
ängstliche Gewissenhaftigkeit und Vorsicht... dessen
reifliche Erwägung möglicher Zwischenfälle und
planmäßiges Vorgehen andererseits ihm es möglich
machten, mitunter selbst an sehr bedeutende und fast verzweifelte
Operationen zu gehen und doch damit ganz merkwürdige Erfolge
zu erzielen."
Aber auch bei den einfachsten Operationen
findet sich "dieselbe Genauigkeit,
dieselbe Präcision des Gedankens wie der Ausführung,
der klinischen Würdigung und des erläuternden
Wortes."
Hier haben wir den gewissenhaften Schwaben,
der wissenschaftliches Neuland sucht und findet und der von allen
Medizinern der so bedeutenden Familie wohl den größten
räumlichen, aber auch wissenschaftlichen Wirkungskreis
hat.
Überraschende Erkrankung und plötzlicher Tod
(1877)
Rastlos arbeitet Heine in seiner Klinik,
hält Vorlesungen, reist zu Vorträgen auf Kongressen
innerhalb und außerhalb Böhmens. Die Zeitgenossen
bescheinigen ihm eine robuste Gesundheit, obwohl eine
Anfälligkeit im Magen-Darmbereich vorhanden zu sein scheint,
die auch für die oft etwas gelbliche Hautfärbung bei
ihm verantwortlich ist. Umso unerwarteter ist die Erkrankung, die
den neununddreißigjährigen Professor im Juli 1877
befällt. Gerade hat er noch auf dem Kongress der deutschen
Ärzte Böhmens in Johannisbad referiert, da zwingt ihn
eine diphtheritische Angina aufs Krankenlager. Er erholt sich
wieder und führt am 4. August in seiner Klinik eine
Kniegelenksoperation durch. Es sollte seine letzte sein. Am 8.
August reist er als Delegierter der Prager Karls-Universität
zur 400-Jahr-Feier seiner "alma mater", der Universität
Tübingen, in die württembergische Heimat. Schon hier
fällt den Freunden seine ungewöhnliche
Zurückhaltung bei den geselligen Veranstaltungen auf. Seit
dem Besuch im elterlichen Haus in Cannstatt am 12. August stellen
sich Gliederschmerzen und Fieber ein. Der erfolgreiche Mediziner
wird von einer rätselhaften Krankheit am 9. September 1877
um die Mittagszeit dahingerafft. Bis zum Schluss ist er bei
Bewusstsein und redet mit dem Vater und den Geschwistern. Auch
gibt er Anweisungen, wie nach seinem Tod zu verfahren ist: "Nach
meinem Tode telegraphire an Billroth: Heine ist todt." Das
trägt er seinem Bruder Adolf auf.
Am 12. September wird Carl Wilhelm von Heine auf dem Cannstatter
Uff-Friedhof neben seiner drei Jahre zuvor verstorbenen Mutter
Henriette Ludovike beigesetzt. Eine ungewöhnlich große
Trauergemeinde begleitet den 77jährigen Hofrath Jakob von
Heine zum Grab des Sohnes. Stadtpfarrer Schneider hält die
Grabrede, die später, wie bei hochgestellten
Persönlichkeiten üblich, im Druck erscheint (Abb.4).
"Ein Männerquartett von Gesangskünstlern eröffnete
und schloß die Bestattungsfeierlichkeit." So berichtet der
"Schwäbische Merkur" am 14. September 1877.
|
Abb. 4: Grabrede des
Cannstatter Stadtpfarrers Schneider |
Das Grab der Familie Heine besteht heute noch, die Steintafel
mit Carl Wilhelms Lebensdaten ist sehr stark beschädigt,
sein Vorname ist nicht mehr lesbar:
[Carl Wilhelm] von Heine
o.ö. Professor
und Vorstand der
chirurgischen Klinik
an der k.k. Universität
Prag
geb. am 26. April 1838
gest. am 9. Sept. 1877
Die Grabplatte des Vaters Jakob, der 1879
stirbt, wurde vor einiger Zeit in Bronze neu gestaltet, daneben
erinnert ein dritter Stein an Henriette Ludovike. Weitere Tafeln,
die an drei der sechs Geschwister erinnerten, sind inzwischen
nicht mehr vorhanden (Abb.5).
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Abb. 5:
Grabstätte Carl Wilhelm Heines auf dem Uff-Friedhof in Bad
Cannstatt |
An der Prager Universität gedenkt man des verstorbenen
Klinikleiters am 13. März 1878 durch die Aufstellung einer
Marmorbüste im Operationssaal seiner chirurgischen Klinik,
die in einer von Studenten und Professoren gestalteten Feier
enthüllt wird. Leider blieb eine briefliche Anfrage nach dem
Verbleib der Büste und die Bitte um Überlassung einer
Fotografie bislang erfolglos.
Carl Wilhelms Vater vermacht der Universität eine wertvolle
Sammlung von Präparaten, die sein Sohn angelegt hat. Sie
bereichert als "Heine-Stiftung" das medizinische
Anschauungsmaterial der Prager Chirurgie.
Die medizinische Fachwelt in Deutschland und Österreich
erinnert in mehreren Nekrologen an den bedeutenden Mediziner und
Universitätslehrer. Im Berliner Archiv für Klinische
Chirurgie und in der Prager Medizinischen Wochenschrift schreiben
jeweils die Chefredakteure Theodor Billroth bzw. Gottfried Ritter
ausführliche Würdigungen der Leistung des viel zu
früh Verstorbenen. Von den fünf Medizinern namens
Heine, die vom Lauterbacher Bierbrauer Joseph Heine abstammen,
ist um die Jahrhundertwende nur noch Urenkel Carl Wilhelm in den
gängigen Lexika erwähnenswert, so etwa im "Brockhaus"
von 1901. Selbst das "Biographische Lexikon hervorragender
Ärzte des 19. Jahrhunderts", das in seiner Ausgabe von 1880
noch alle Heines aufführt, beschränkt sich 1901 auf
Carl Wilhelm und veröffentlicht sein Bild (Abb. 2). Erst die
zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts haben das
medizingeschichtliche Interesse wieder auf die Heines der ersten
und zweiten Generation gelenkt. In der heimatgeschichtlichen
Betrachtung sind natürlich die gebürtigen Lauterbacher
Johann Georg und Jakob und der gebürtige Schramberger
Bernhard Heine von größerer Wichtigkeit. Dennoch muss
und kann festgestellt werden, dass der Cannstatter Carl Wilhelm
von Heine unter den Medizinern des 19. Jahrhundert eine
herausragende Stellung einnimmt. Niemand vermag zu sagen, welche
weiteren groß- artigen Leistungen dieses hochbegabten
Chirurgen der allzu frühe Tod verhindert hat.
Literatur (Auswahl):
Heine, Carl:
Organisirung und Ausstattung der in Flensburg befindlichen
Feldhospitäler
in Medicinisches Correspondenzblatt des Württembergischen
Ärztlichen Vereins 12 und 13 (1864) S. 95-96; S.
98-104
Heine, Carl:
Die Schußverletzungen der unteren Extremitäten nach
eigenen Erfahrungen aus dem letzten schleswig-holsteinschen
Kriege
in Archiv f. klin. Chirurgie 7 (1866) S. 229-457; S.
515-692
Heine, Carl:
Der Hospitalbrand
in Pitha-Billroths Handbuch der allgemeinen und speciellen
Chirurgie Berlin (1874) S.187-385
Billroth, Theodor:
Nekrolog
in Archiv f. Klin. Chirurgie 22 (1878) S. 243-252
Ritter, Gottfried:
Karl Wilhelm Ritter v. Heine
in Prager Medicinische Wochenschrift 38 (1877)
Lücke, A.:
Nekrolog
in Dt. Zeitschrift f. Chirurgie 9 (1878) S. 378-380
Pagel, J.:
Biograpisches Lexikon hervorragender Ärzte des neunzehnten
Jahrhunderts, Berlin 1901
Willkomm-Schneider, M.:
Würdigung Heines
in Archiv f. Gesch. der Medizin 20 (1928) S.99
Hansen, Heinz:
Die Orthopädenfamilie Heine - Leben und Wirken der
einzelnen Familienmitglieder im Zeichen einer bedeutenden
deutschen Familientradition des neunzehnten Jahrhunderts
Dissertation, Dresden 1993
Anmerkung: Dr. Hansen, der als niedergelassener Arzt im
Schramberger Stadtteil Waldmössingen praktiziert, hat dem
medizinischen Laien manche wertvollen Hinweise geben können
und Quellenmaterial beigesteuert. |