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Jakob Heine - vom König geadelt und in aller Welt geehrt

d'Kräz 10 (1990)    mit Abbildungen

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In der Beschreibung des Oberamts Oberndorf aus dem Jahre 1868 wird Lauterbach als der Geburtsort von drei berühmten Orthopäden bezeichnet. Alle drei heißen Heine und sind die einzigen Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts, die einer Erwähnung für würdig befunden werden. Dass neben den "echten" Lauterbachern Johann Georg Heine und Jakob von Heine auch der Schramberger Bernhard Heine als Lauterbacher aufgeführt wird, mag verständlich sein, wenn man weiß, dass er wie sein Onkel und sein Vetter vom Lauterbacher Bauern und Bierbrauer Joseph Heine abstammt. Dass Bernhard Heine mehr als Orthopäde war, wurde in "D'Kräz" Nr. 9 (1989) aufgezeigt, so wie bereits in Heft 8 (1988) das Leben und Wirken Johann Georg Heines dargestellt wurde. Der vorliegende Beitrag über Jakob von Heine soll zeigen, dass auch dieser Spross der Lauterbacher Familie weit mehr als ein erfolgreicher Arzt war, sondern wie sein Vetter Bernhard zu den großen und bedeutenden Medizinern des 19. Jahrhunderts zählt.

(Stammtafel der Heines aus Lauterbach)

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Abb.1: Jakob Heine 1856

Ein Spätberufener wird Arzt

Jakob Heine wird am 16. April 1800 als Sohn des Sonnenwirts und Mesners Martin Heine und seiner Frau Agathe Klausmann geboren. Er ist das älteste von insgesamt 14 Kindern aus dieser im Jahre 1799 geschlossenen Ehe. Sieben seiner Geschwister sterben kurz nach der Geburt oder im Kindesalter.
Bei der Beurkundung der Eheschließung der Eltern im Lauterbacher Kirchenbuch ist die in späteren Veröffentlichungen wiederholt auftauchende Schreibweise "Heyne" entstanden, die jedoch weder von Jakob noch von dessen Bruder Ferdinand, der jahrzehntelang Lehrer in Lauterbach war, angenommen wurde. In den späteren Beurkundungen heißt auch der Sonnenwirt wieder "Heine" und seine Schwiegereltern "Klausmann" und nicht "Clausmann". Ob die latinisierte Schreibung des Vornamens "Jacob" oder das deutsche "Jakob" vom Träger des Namens verwendet wurde, lässt sich deshalb nicht feststellen, weil er sich als Autor nur "J. Heine" oder "Dr. Heine" nennt. Es ist also sicher zulässig, wenn die Gedenktafel unterhalb der Lauterbacher Kirche an "Jakob von Heine" erinnert, Diese Schreibweise soll auch im vorliegenden Beitrag verwendet werden.
Jakob Heine besucht bis zum 13. Lebensjahr die Dorfschule in Lauterbach. Als ältester Sohn ist er vom Vater für die Land- und Gastwirtschaft ausersehen und wird, wie damals üblich, schon früh im elterlichen Betrieb zur Mithilfe eingesetzt. Ein Aufenthalt in Vevey am Genfer See, wo er in einem Gasthof arbeitet, soll die Ausbildung ergänzen. Bei dem inzwischen zwanzigjährigen Jakob hat dies wohl dazu geführt, seine ganz anders gearteten Berufsinteressen mit Nachdruck zu verfolgen. Er möchte Pfarrer werden und bewirbt sich nach seiner Rückkehr in die Heimat am Rottweiler Gymnasium um die Aufnahme, wird aber wegen mangelhafter Vorbildung und zu hohen Alters abgewiesen. Es gelingt ihm 1821, an der Lateinschule in Alpirsbach aufgenommen zu werden, wo er ein Jahr lang zusammen mit 8-14jährigen Buben die Schulbank drückt. Mit den dort erworbenen Kenntnissen schafft er als Zweiundzwanzigjähriger schließlich doch die Aufnahme in Rottweil und legt in kurzer Zeit die Reifeprüfung ab.
Wie vor ihm sein Vetter Bernhard Heine aus Schramberg geht er 1823 nach Würzburg, wo sein Onkel Johann Georg Heine seit 1816 sein inzwischen weithin berühmtes orthopädisches Institut betreibt. Während aber Bernhard von Anfang an beim Onkel in die Lehre geht und sich später auf dem Gebiet der Chirurgie weiterbildet, hält Jakob zunächst an seinem ursprünglichen Plan eines Theologiestudiums fest. Unter dem Einfluss des Onkels und der beiden Vettern Bernhard und Joseph wechselt er aber bald zur Medizin über und verbindet die praktische Arbeit am Karolinen-Institut mit einem gründlichen Studium an der Würzburger Universität. Nach vier Jahren schließt er 1827 mit einer Doktorarbeit über die Unterbindung der Unterschlüsselbeinarterie sein Studium ab.
Heine bleibt noch eineinhalb Jahre als Assistenzarzt an der inneren und der chirurgischen Klinik und vervollständigt seine medizinische Ausbildung. Da er zeitweilig mit der Durchführung von Leichenöffnungen an allen Würzburger Kliniken betraut ist, kann er sein Wissen über Erkrankungen der Gelenke und Knochen, denen bald sein Hauptinteresse gilt, durch Sektionen vertiefen.

Umzug nach Württemberg und Gründung der Orthopädischen Heilanstalt in Cannstatt (1829)

Im gleichen Jahr, in dem Johann Georg Heine endgültig nach Holland übersiedelt (1829), verlässt auch Jakob Heine Würzburg, um in seinem Heimatland Württemberg als Arzt zu praktizieren. Dies war damals für einen, der in Bayern, also im "Ausland", studiert und promoviert hatte, nur durch Ablegung eines Examens vor der medizinischen Fakultät der Landesuniversität Tübingen und dem württembergischen Medizinalkollegium möglich. Jakob Heine unterzieht sich dieser Prüfung im Frühjahr 1829 und wird damit zugelassener Arzt in Württemberg. Da man von seiner Verwandtschaft zum Leiter des Würzburger Karolineninstituts und auch seiner Tätigkeit dort weiß, wird ihm bald von verschiedenen Seiten der Vorschlag gemacht, ein ähnliches Institut in Württemberg aufzubauen. Dem jungen Arzt fehlen natürlich die Mittel für ein solches Unternehmen, weshalb er beim württembergischen Innenministerium um Unterstützung nachsucht, und "bald darauf wurde [ihm] durch hohen Erlass ein Gratial von 500 fl. und später ein zweites zur ersten Einrichtung bewilligt. " Mit diesem Startkapital errichtet Jakob Heine im Herbst 1829 in einem "Privathause der freundlich gelegenen Stadt Cannstatt" eine fachärztliche Praxis als Orthopäde, wobei diese Stadt "durch ihre reizenden Umgebungen, ihr mildes, gesundes Klima, ihre salinischen Eisenquellen, Flussbäder etc. für eine solche Heilanstalt vorzüglich geeignet schien."
Das Unternehmen wird ein großer Erfolg, und bereits im Frühjahr 1830 erwirbt Heine ein eigenes Haus mit Garten, das der Grundstock für die später immer wieder vergrößerte Anstalt wird. Vierzehn Jahre nach der Gründung der ersten orthopädischen Anstalt in Deutschland gründet nun wiederum ein Lauterbacher die erste Anstalt dieser Art in Württemberg.
Wie bedeutend seine Initiative für die Stadt Cannstatt ist, kann man daraus ersehen, dass der Lauterbacher Wirtssohn schon nach einem Jahr, nämlich im Alter von dreißig Jahren, Ehrenbürger der damals noch selbständigen Stadt wird. Bemerkenswert ist, dass auch seiner Braut (und späteren Frau) Henriette Ludovike Camerer die gleiche Ehrung zuteil wird. Heines Verbindungen reichen in bald in die höchsten Kreise, denn, so berichtet er, "schon im Herbste 1830 beehrten Ihre Königlichen Majestäten meine Anstalt mit Ihrem Hohen Besuche und sprachen schon damals Ihre gnädigste Anerkennung meines Strebens aus. Gleiche Würdigung widerfuhr derselben in späteren Jahren von Sr. Königlichen Hoheit dem Kronprinzen und Dessen Hoher Gemahlin, Kaiserl. Hoheit. "(Gemeint ist Kronprinzessin Olga, eine Tochter des Zaren Nikolaus.)
König Wilhelm I. (1816-1864), der seit seinem Regierungsantritt Cannstatt als Badeort gefördert hat, ist an der Heineschen Heilanstalt sehr interessiert. Bereits 1833 werden vom württembergischen Landtag "eine weitere Summe zu zwei Anbauten" und zudem auf Vorschlag der Regierung Mittel für Freiplätze für "arme ortho- pädisch Kranke " des Landes bewilligt.
Seit 1832 erscheinen im "Schwäbischen Merkur" in zweijährigem Abstand von Jakob Heine selbst verfasste Berichte über die Anstalt mit exakter Aufzählung der behandelten Fälle von "Verkrümmungen des menschlichen Körpers", wie Rückgratsverkrümmungen, Klumpfüße, Lähmungen der Beine und Arme. Genau werden die Heilerfolge registriert, außerdem werden von vielen Deformationen Gipsabdrücke angefertigt - einer vor, einer nach der Behandlung - und unter Beachtung des "Datenschutzes" anonym aufbewahrt. Hier erfahren wir auch, dass z.B. im Jahr 1832 insgesamt 36 minderbemittelte "Curanden" in der Anstalt behandelt wurden.

Große Heilerfolge durch ganzheitliche Behandlungsmethode

Heines großer Erfolg in der Behandlung wird vor allem auch durch die von ihm praktizierte "ganzheitliche" Methode erzielt. Neben dem chirurgischen Sehnenschnitt und der mechanisch- orthopädischen Anwendung von Streckapparaten erkennt er - anders als beispielsweise sein Onkel und Lehrer Johann Georg - auch die Gymnastik als wichtigen Bestandteil der Behandlung an und ergänzt dies alles durch die Anwendung von Bädern im Cannstatter Mineralwasser, vor allem aus der auf dem Gelände der Anstalt von ihm selbst erschlossenen Quelle mit eisenhaltigem Wasser von einer ständig gleichbleibenden Temperatur von 20 Grad Celsius. Lesen wir seinen Bericht aus dem Jahr 1832:

"Man wird aus dem Gesagten ersehen, dass die Behandlung der Verunstaltungen des menschlichen Körpers im disseitigen Institut zwischen den zwei Methoden in der Mitte steht, deren eine allein das Heil in der Gymnastik finden will, die andere aber mehr die Mechanik berücksichtigt. Endlich besizt die Anstalt, um das Muskel- und Bändersystem, so wie überhaupt den GesammtOrganismus zu bekräftigen und zu stärken, nebst den erwärmten Mineral- und den NeckarBädern, noch besonders ein vorzügliches Hülfsmittel an der ganz nahe gefaßten Sulzquelle, deren Wasser zu allen Jahreszeiten eine Temperatur von 16o R. hat, und .... gewissermaßen als Surrogat eines Seebades benutzt werden kann..."

Die Anstalt ist in drei "Abtheilungen" oder Klassen gegliedert, "damit das Institut immer an Gemeinnützigkeit gewinne und den minder Vermöglichen eben so zugänglich bleibe, wie den Vermöglichen ... ". In der untersten Klasse betragen die jährlichen Kurkosten 225 Gulden, in der mittleren 340 und in der ersten 475, wobei sich diese Unterschiede nur auf Kost und Wohnung beziehen, "während in Rücksicht auf die zur ärztlichen Behandlung gehörigen Mittel jeder Art vollkommene Gleichheit unter sämmtlichen Kuranden stattfindet." Da sehr viele Kinder zu den Patienten gehören, werden Lehrerinnen und Lehrer in die Anstalt aufgenommen, die neben Religion und Elementarfächern auch Sprachen, Musik und Zeichnen, aber auch Tanz und "weibliche Arbeiten" unterrichten.
Im Jahr 1843 kauft Heine zum Preis von 20.000 Gulden vom Staat das gesamte Anwesen und errichtet weitere Gebäude.(Abb. 2).


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Abb.2: Die orthopädische Anstalt Jakob Heines in Cannstatt im Jahr 1854


In seinem 1854 erschienenen Bericht über die "25jährige Wirksamkeit" seiner Anstalt beschreibt er die Gesamtanlage wie folgt:

"Uebersehen wir nun das Ganze, wie es seit etwa 10 Jahren besteht, so finden wir 3 in einer Fronte stehende Gebäude, die nach dem Osten, Süden und Westen von dem nun 5 Morgen grossen, parkartig angelegten Garten umschlossen sind, in welchem sich auf der einen Seite die obengenannten Sulzbäder, auf der andern der schon erwähnte artesische Mineral-Brunnen befindet. In der Mitte des Gartens steht die Turnhalle mit verschiedenen, den einzelnen Fächern angemessenen, gymnastischen Vorrichtungen, und in der Nähe derselben ein im vorigen Jahr erbauter grosser Saal zur Aufnahme der über 1000 Exemplare zählenden Sammlung von Gypsabdrücken... Zugleich sind hier die Modelle der verschiedenen orthopädischen Apparate aufgestellt. Im Parterre des einen Flügels der Anstalt befinden sich die warmen Bäder, und darüber ein großer Turnsaal für den Winter; in dem des andern ist das Atelier für die zur Verfertigung der Maschinen und Apparate angestellten Mechaniker und Sattler, die Küche, die Speiselokale, und im zweiten Stock die Wohnung des Vorstehers. Die übrigen Räume umfassen etwa 50 Zimmer zur Aufnahme der Patienten."


Die Dauer eines Aufenthaltes in der Heilanstalt beträgt je nach Alter der Patienten und dem Grad der Erkrankung zwischen vier und zwölf Monaten.

"Die Tagesordnung der Curanden beginnt mit Morgenpromenaden in dem grossen schattigen Garten, bei welchen die Patienten je nach Bedürfniss in der günstigen Jahreszeit Mineral- Stahl-Jodwasser, Molken etc. trinken; diesen folgen Frühstück, gymnastische Uebungen nach meiner Anleitung und unter Aufsicht der Gouvernanten, ferner die Behandlung auf dem orthopädischen Bett, auf welchem sie, je nach Grad des Falles, anfangs eine, nach und nach 1 1/2 bis 2 1/2 Stunden liegen, ohne oder mit Extension und den übrigen darauf angebrachten Apparaten. Dazwischen folgen Bäder und Manipulationen. Vor und nach Tisch wieder Aufenthalt im Garten; Nachmittags wiederholt sich die Cur mit Ausnahme der Bäder auf die angegebene Weise; die Zwischenzeiten sind mit Unterricht ausgefüllt."

Besondere Aufmerksamkeit schenkt Heine dem Mineralwassersee, den er 1838 mit einem Kostenaufwand von 5000 Gulden in eine "allgemein geschätzte Badeanstalt umschuf. Sie umfasst größere und kleinere Bassins von verschiedener Tiefe mit Schaufelrädern zum Wellenschlag und Vorrichtungen zu Douchen und Eisenschlamm-Bädern, zu welch letzteren sich der nöthige Schlamm auf der 20 - 30' (Fuß) tiefen Sohle des Teiches in grosser Menge abgelagert findet."
Dieses Bad wird nicht nur von Heines Patienten genutzt, sondern kann für 12 Kreuzer pro Bad auch von "ambulanten" Badegästen benutzt werden, was auch reichlich geschieht.
Die Anstalt selbst hat inzwischen europäische Bedeutung erlangt. Der Bericht von 1838 nennt über 100 Schweizer, zahlreiche " Badenser und Baiern ", aber auch Franzosen und Engländer. Auch Mitglieder des russischen Hochadels (Verwandte der späteren Königin Olga) kommen nach Cannstatt und zählen zu Heines Patienten.

Der wissenschaftliche Mediziner - der orthopädische Praktiker

Tritt bei einem Patienten eine organische Erkrankung ein - Heine spricht von "inneren" Krankheiten - , so wird sie "von mir behandelt, in besonderen Fällen aber zur Beruhigung der Eltern ein zweiter Arzt beigezogen." Also genau das Gegenteil zur Haltung Johann Georg Heines, der ohne jegliche ärztliche Befugnis, zumindest in seiner holländischen Phase, auch innere Krankheiten heilen wollte! Der Vollmediziner Jakob Heine beschränkt sich bei komplizierten Fällen auf sein chirurgisch-orthopädisches Metier. Er gehört wie sein Vetter Bernhard Heine zur neuen Medizinergeneration, die der durch die Schellingsche Naturphilosophie geprägten "romantischen" Medizin die exakte naturwissenschaftliche Methode entgegensetzt. Schließlich war Jakob Heine in Würzburg Schüler von Johannes Schoenlein, der im Jahr 1840 in Berlin die erste klinische Vorlesung in deutscher (statt lateinischer) Sprache hielt.
Als Beispiel für Jakob Heines praktische Begabung, die er mit seinem Onkel Johann Georg gemein hat, mag seine Erfindung eines neuen und verbesserten Schenkelhalsbruchapparats gelten, der eine erfolgversprechende Heilung dieses komplizierten Knochenbruchs ermöglicht. Immerhin ist eine Demonstration, die Heine im Stuttgarter Militärhospital vornimmt, so beeindruckend, dass die Hospitalverwaltung eine solche Maschine, gefertigt im Heineschen " Atelier ", bestellt. Heine beschreibt den Apparat ausführlich im zweiten Teil seines 1842 erschienenen Buches über angeborene und spontane Lähmungen und fügt die hier wiedergegebenen Abbildungen bei.(Abb. 3a und 3b)

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Abb. 3a: "Reductions-Apparat" und "Schenkelhalsbruch-Apparat"
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Abb. 3b: Anwendung des Apparats bei einem jungen Patienten

Privat und Familienleben

Ähnlich wie bei den anderen berühmt gewordenen Heines erfahren wir auch über Jakob Heines Privatleben nur sehr wenig. In Cannstatt heiratet er 1831 die sieben Jahre jüngere Henriette Ludovike Camerer, Tochter des Direktors des Katholischen Kirchenrats in Stuttgart. Aus der Ehe gehen sieben Kinder hervor, neben fünf Töchtern der gleichfalls bedeutende Mediziner Karl Wilhelm von Heine. Ein weiterer Sohn, Adolf, wird ebenfalls Arzt. Heines Ehefrau ist in der Anstalt mit der Organisation des Unterrichts für die jugendlichen Patienten betraut und unterstützt ihren Gatten tatkräftig. Der Nekrolog von 1880, der für die meisten späteren Biographen als Vorlage gedient hat, beschreibt sie als "verständige, .. thatkräftige Frau .. ", die durch ihre eigene persönliche Leistung zum Erfolg ihres Ehemannes beigetragen hat. Henriette stirbt bereits 1874, sicher ein schmerzlicher Verlust für den 74jährigen Heine, der damit seine "Stütze, Partnerin, sein zweites Ich " verliert. Ebenso schmerzlich trifft ihn der frühe Tod seines Sohnes Karl Wilhelm von Heine, der als Professor in Prag und Innsbruck wirkte. Er stirbt 1877 im Haus des Vaters in Cannstatt im Alter von 39 Jahren an Diphtherie.
Jakob Heine hat bereits als Jüngling am Genfer See Französisch gelernt und diese Kenntnisse im Studium und in der wissenschaftlichen Arbeit vertieft. In seinen Schriften zitiert er wiederholt französische Ärzte und übersetzt einzelne Passagen ins Deutsche.
Der Lauterbacher ist gläubiger Katholik, der im protestantischen Cannstatt für seine Glaubensgenossen die St. Martinskirche, die nach der Reformation zweckentfremdet genutzt wurde, wieder herrichten lässt. Er findet hierbei die Unterstützung des (protestantischen) Königs Wilhelm I., der aus seiner Privatschatulle 5000 Gulden zum Erwerb des Gebäudes beisteuert, auch dies ein Beweis für Heines enge Verbindung mit dem Königshaus. Dass Jakob Heine großzügig gegenüber den "Minderbemittelten" war, geht nicht nur aus seinen eigenen Berichten über die Anstalt hervor, wo er kostenlose Behandlungen erwähnt, es ist auch in der Oberamtsbeschreibung von Cannstatt belegt, wo eine Stiftung Heines von 3400 Mark " für die Armut " vermerkt ist.

Hohe Auszeichnungen zu Lebzeiten - Ehrungen in jüngster Zeit

Die Anerkennung der Obrigkeit schlägt sich in der Ernennung Jakob Heines zum Hofrat (1847) und in der Verleihung des Ordens der württembergischen Krone nieder. Diese letztere Rangerhöhung, die ihn zum einzigen geadelten Lauterbacher macht, muss 1854 oder früher erfolgt sein, denn er führt das Adelsprädikat bereits in dem 1854 veröffentlichten Bericht zum 25jährigen Bestehen seiner Anstalt. (Abb. 4). Dort ist auch der russische Wladimir-Orden erwähnt, den er der Behandlung eines Enkels von Zar Nikolaus I. (1853) verdankt. Seine Auftritte als Referent in Freiburg werden mit dem badischen Zähringer Löwenorden belohnt.
Seine europäische Bedeutung als wissenschaftlicher Mediziner belegt der Titel "corresp. Mitglied der medicinischen Academie von Ofen und Pesth " (dem heutigen Budapest). Kurz vor seiner "Pensionierung" erhält er 1864 den Titel Geheimer Hofrat.


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Abb. 4: Titelseite von Heines Bericht über seine Heilanstalt (1854), aus der seine Titel und Adelsprädikate zu ersehen sind


Auch beim Württembergischen ärztlichen Verein ist Heine Mitglied und veröffentlicht regelmäßig medizinische Fachbeiträge in dessen "Correspondenzblatt" und referiert auf Tagungen. Die eingangs erwähnte Gedenktafel in Heines Geburtsort Lauterbach wurde im November 1971, zweihundert Jahre nach der Geburt Johann Georg Heines, enthüllt. Bad Cannstatt ehrte seinen Ehrenbürger zu seinem 100. Todestag und 150 Jahre nach der Gründung der Heilanstalt im Jahr 1979 durch Enthüllung einer Gedenktafel an einem Haus in der Badstraße, wo sich die Heinesche Anstalt befand. Sein Großneffe Ferdinand und seine Schwester Elisabeth (s. Stammtafel) waren bei dieser Ehrung anwesend. Die bedeutendste und zugleich weltweite Ehrung wurde dem Lauterbacher jedoch im Jahr 1958 zuteil.

Die große wissenschaftliche Leistung - Entdeckung der spinalen Kinderlähmung

Heine betreibt die Orthopädische Heilanstalt bis 1865, dann setzt er sich zur Ruhe. Sein Sohn Karl Wilhelm ist nicht bereit, die Arbeit des Vaters fortzusetzen, er bleibt bei seiner akademischen Tätigkeit, und so markiert 1865 das Ende des Instituts, während die Badeeinrichtungen von einer Aktiengesellschaft übernommen und noch weiter betrieben werden. Bereits 1895 ist die Heinesche Anstalt in Cannstatt fast vergessen. Auf ihrem Gelände entsteht das Restaurant "Russischer Hof". Bei einem Luftangriff 1944 werden die inzwischen anderweitig genutzten Gebäude zerstört.
Trotzdem würde schon die bisher gezeigte Leistung des Lauterbacher Gastwirtssohns eine heimatgeschichtliche Würdigung rechtfertigen. Die Tatsache, dass es im amerikanischen Bundesstaat Georgia, in einer Stadt namens Warm Springs, eine Bronzebüste des Lauterbachers Jakob Heine gibt, weist jedoch auf eine viel größere Bedeutung dieses Mannes hin. Heines Büste steht dort seit 1958 als eine von siebzehn zur Erinnerung an berühmte Männer, die mit der Erforschung oder Bekämpfung der spinalen Kinderlähmung oder Poliomyelitis zu tun hatten. Sie wurden von der amerikanischen Gesellschaft zur Bekämpfung der Kinderlähmung (Warm Springs Foundation) aufgestellt. Einer von den siebzehn ist das wohl prominenteste Opfer dieser Krankheit: der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt, der viel für die Opfer der Krankheit getan hat.
Jakob Heine gilt als der Entdecker dieser Krankheit, und als solcher hat er weit über die württembergische Heimat hinaus in der ganzen Welt Bedeutung erlangt.
Wie bereits erwähnt, interessiert sich Jakob Heine schon als junger Assistenzarzt in Würzburg für Erkrankungen der Gelenke und Knochen und betreibt auf diesem Gebiet wissenschaftliche Untersuchungen. In Cannstatt findet er unter seinen jugendlichen Patienten immer wieder solche mit Lähmungen der Beine, die nicht angeboren sondern nach einer schweren Krankheit im Kindesalter zurückgeblieben sind. In den dreißiger Jahren beobachtet er die Fälle systematisch und berichtet darüber in Veröffentlichungen und Vorträgen. Schließlich fasst er seine Erkenntnisse 1840 in seinem ersten Buch mit dem Titel "Beobachtungen über Lähmungszustände der unteren Extremitäten und deren Behandlung" zusammen.


"Gesund und gerade geborene, meist blühend aussehende Kinder im Alter von 6 bis zu 36 Monaten, ausnahmsweise etwas darüber, erkranken, nachdem sie sich bis dahin einer ungetrübten Gesundheit zu erfreuen hatten, entweder mit oder ohne vorhergegangene Andeutungen von Unwohlseyn, als: Verdrehen der Augen etc., plötzlich unter den Erscheinungen von Hitze .... Fieber, Durst, Verdriesslichkeit, Schreien, Schläfrigkeit ohne wirklichen Schlaf .... Nachdem nun die Krankheit ... bald kürzer, bald länger, heftiger oder milder .. verlaufen ist, tritt ein Nachlass der Symptome ein, ....das in höchster Lebensgefahr geschwebte Kind liegt nun ruhig, blass und abgemattet da, schlägt die Augen auf, und sieht um sich, als wenn es von einem tiefen Schlafe erwacht wäre. Schon geben sich die Eltern der frohen Hoffnung der Wiedergenesung ihres Lieblings hin, als sie mit Schrecken die Entdeckung machen, dass die unteren Extremitäten gelähmt sind."


Jakob Heine beschreibt treffend ein Krankheitsbild, das er 20 Jahre später in der 2. Auflage des Buches "Spinale Kinderlähmung" nennt, weil er erkennt, dass die Lähmungen mit einer Schädigung des Rückgrats zusammenhängen und fast ausschließlich im Kindesalter auftreten. Er trennt als erster dieses Krankheitsbild von anderen, z. B. angeborenen Lähmungszuständen und Deformationen, und er sieht den Zusammenhang zwischen der Lähmung und der im obigen Zitat geschilderten Erkrankung des vorher gesunden Kleinkindes.
Naturgemäß hat Heine als Orthopäde nur mit dem Endstadium der Erkrankung zu tun; über die voraufgegangenen Symptome erhält er erst durch die Berichte der Eltern und Hausärzte Aufschluss. Er versucht, die Ursache der Krankheit zu deuten, aber hier kommt er zu keinem schlüssigen Ergebnis. Es sollte noch ein halbes Jahrhundert vergehen, bis der für die Erkrankung verantwortliche Erreger entdeckt wird. Für Heine und seine Zeitgenossen gelten z. B. Schwierigkeiten bei der Zahnbildung als denkbare Ursache. Dennoch wird Jakob Heine mit Recht als der Entdecker und erste Schilderer dieser heimtückischen Krankheit bezeichnet. Es ist sein Verdienst, die Symptome der Krankheit exakt erfasst und vor allem erfolgreiche Behandlungsmethoden für die Lähmungen entwickelt und angewandt zu haben. Deshalb trägt die Krankheit auch zu Recht den Namen "Heine-Medinsche Krankheit", wobei der zweite Teil des Namens an den schwedischen Arzt Karl Oscar Medin (1847-1927) erinnert, der 1890 den ansteckenden Charakter der Krankheit entdeckte und beschrieb. Es gibt auch bei Jakob Heine Vermutungen, dass die Krankheit durch Ansteckung übertragen werden könne, doch fehlt bei ihm wegen der geringeren Zahl der Fälle der endgültige Beweis.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts trat die Krankheit nämlich in Europa und den USA weitaus häufiger auf als in Jakob Heines Tagen. So gab es in Schweden im Jahr 1905 eine Epidemie mit über 1000 Fällen, die der schwedische Arzt und Medin-Schüler Ivar Wickman in einer sehr gründlichen Veröffentlichung 1907 darstellte. Er ist es auch, der den Namen "Heine-Medinsche Krankheit" in die Medizin einführte, da die beiden anderen Bezeichnungen "spinale Kinderlähmung" oder "Poliomyelitis" nur Teilaspekte der Krankheit abdecken. Wickman folgte damit einem Hinweis von Sigmund Freud, der meinte, die Benennung einer Krankheit nach ihren Entdeckern sei unverfänglicher als die nach Symptomen oder Erregern. Und so steht heute der Name Jakob Heines bei der Bezeichnung der von ihm entdeckten Krankheit ebenso an erster Stelle wie bei den in Warm Springs, Georgia, enthüllten Bronzebüsten, die neben Oscar Medin und Ivar Wickman weitere Polio-Forscher, darunter auch den Entdecker des Impfstoffes, Jonas E. Salk, darstellen.


Die letzten Jahre

Nach seinem Rückzug von der Leitung seiner Heilanstalt lebt Jakob Heine im Ruhestand. Auch die wissenschaftliche Arbeit hat er aufgegeben; es gibt keine Veröffentlichungen mehr aus dieser Zeit. Beim 1880 erschienen Nekrolog gewinnt man fast den Eindruck, sein wissenschaftliches Wirken sei in Vergessenheit geraten. Erst der Chirurg Ernst Gurlt, der Verfasser aller Heine-Artikel in der Allgemeinen Deutschen Biographie, kommt zu einer gerechteren Würdigung des Wissenschaftlers Jakob Heine.
Jakob Heine stirbt nahezu achtzigjährig am 12. November 1879 in Cannstatt und wird auf dem Uff-Friedhof beigesetzt.
Ein Besuch in Lauterbach ist - wie bei Johann Georg Heine - nirgends belegt, die familiären Verbindungen müssen aber weiterbestanden haben. Denn so wie Würzburg in den zwanziger Jahren für Bernhard und Jakob durch das dortige Wirken des Onkels ein Anziehungspunkt war, hat der Stuttgarter Raum auf Jakobs Neffen Ferdinand, den als 15. Kind 1855 geborenen Sohn des Lauterbacher Lehrers, gewirkt. Er zieht nach Stuttgart und wird ein erfolgreicher Kaufmann. Zwei seiner zahlreichen Kinder sind die Träger der Geschwister-Heine-Stiftung : die heute noch lebende Elisabeth Heine und ihr 1988 verstorbener Bruder Ferdinand, gleichfalls ein erfolgreicher Unternehmer in Stuttgart, die 1982 die Lauterbacher Kindergärten übernommen haben.
Weitergehende familiengeschichtliche Forschungen, die vielleicht durch bisher noch nicht bekannte Quellen bereichert würden, müssten den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Sie sollen späteren Beiträgen, in denen dann auch das Wirken der beiden weiteren erfolgreichen Mediziner Karl Wilhelm und Joseph Heine gewürdigt wird, vorbehalten bleiben.
Mit Jakob Heine haben wir den letzten der drei berühmten Heines, die in unserem Raum geboren wurden, kennengelernt. Die große Bedeutung in der Geschichte der Medizin ist bei allen dreien unbestritten. Jakob Heine ist der einzige mit vorschriftsmäßiger medizinischer Ausbildung. Seine Würzburger Dissertation kann man in jeder Universitätsbibliothek ausleihen. Dennoch werden wir beim "Spätberufenen" Jakob Heine, der als 21jähriger noch die Schulbank drückt, an den ehrgeizigen Mechaniker Johann Georg erinnert, der sich zum erfolgreichen Orthopäden hocharbeitet. Mit seinem Vetter Bernhard hat er die wissenschaftliche Methode gemein, in der Veröffentlichung seiner Ergebnisse ist er ihm überlegen. Durch den medizinischen Begriff "Heine-Medinsche Krankheit" für die von ihm entdeckte Kinderlähmung ist der Name dieses berühmten Lauterbachers in aller Welt geläufig.


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Teile dieses Aufsatzes wurden im Heft 10 vom März 2002 der Fachzeitung "Polio Europa Aktuell" der Polio Initiative Europa e. V. veröffentlicht.

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Literatur
(Auswahl):


Heine, Jakob: Beobachtungen über Lähmungszustände der unteren Extremitäten und deren Behandlung, Stuttgart 1840,
2. Aufl. Spinale Kinderlähmung, Stuttgart 1860

Heine, Jakob: Kurzer Bericht über die 25jährige Wirksamkeit der orthopädischen Anstalt in Cannstatt, Cannstatt 1854

daneben zahlreiche Berichte Heines in der Beilage zum "Schwäbischen Merkur" und im "Correspondenzblatt des württembergischen ärztlichen Vereins"

Wickman, Ivar:Beiträge zur Kenntnis der Heine-Medinschen Krankheit,
Berlin 1907

Bürger Bernhard:, Jakob von Heine, der Entdecker der spinalen Kinderlähmung, Dissertation, Bonn 1911

Stübler,Eberhard: Jakob Heine, Begründer der ersten orthopädischen Heilanstalt in Württemberg, in Schwäbische Lebensbilder, Band 3, Stuttgart 1942

Benutzt wurden die Heine-Dokumente des Archivs der Gemeinde Lauterbach und des Stuttgarter Stadtarchivs, denen hiermit gedankt sei. Das Archiv der Gemeinde Lauterbach konnte wiederum um zahlreiche Dokumente erweitert werden.



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